Manfred Paß
Lesung am 10.9. 2015
Gedichte wie Zugvögel
Liebe Lyrikfreunde!
Ich möchte Sie heute
einladen zu einer kleinen „aktiven Pause", in der die
Zeit
für eine Weile stillsteht. Ohne ein Innehalten, ein gelegentliches Anhalten im Getriebe kann Künstlerisches nicht aufgenommen und zu eigen gemacht
werden.
Hilde Domin sagte einmal : “ Ein Gedicht ändert sich unmerklich, wenn es sich
mit
‚dem „Ich“ des Lesers füllt.....“ und heute
Abend ergänze ich: Wenn es sich mit dem Ich
„Ich“ des "Zuhörers"
füllt ??
Es gibt die Inseln der Künste neben
aller wissenschaftlichen Erkenntnis und
allem technischen Fortschritt. . Kunst
findet zu einer eigenen Sprache. Ihr Atem zaubert
eine Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit
des Alltags. Auf
diesem Hintergrund - in Nischenräumen - kreiert sie eine Sprache, die die Begegnung,
Nachdenken und Kommunikation bewirkt.
Der Titel meiner Lesung lautet:„Gedichte wie Zugvögel“–„Eine aktive Pause im Mahlstrom aller Geschäftigkeit.“
Es gibt 3 kleine musikalische Einlagen mit
Goldberg-Variationen, die ich sehr
liebe. Sie haben auf originelle Weise
ihren Namen bekommen: Bach komponierte 30 kleine Arien, die er bei einem Besuch vom Zarenhof in Dresden von einem jungen hochbegabten
Schüler aus Berlin vortragen ließ. Der spielte die Stücke so hervorragend, dass Bach sie nach ihm
benannte: Die Goldberg-Variationen! Ich
hoffe, es klappt bei mir mit dem Abspielen!
Ich beginne mit ein paar einführenden Texten, dann folgen weitere unter den
Titeln:
Der Lauf der Dinge
und Atempausen
Annemarie Schnitt
Gedichte wie Zugvögel
dich mitzuziehen
in wärmere Zonen
Poesie
das beflügelt Wort
das aus der Luft gegriffene
das freigesetzte
zum Flug in die Ferne
Meine Freunde
die Worte
wie nahe Wesen
unterwegs mit mir
auf geheimen Wegen
Festgehaltene
an weiten Stränden
aufgelesene Gedanken
gefügt zur Form
im Vers
Es gibt sie
die poetische Wahrheit hinter
der Wahrheit der Welt
die andere Sicht der Dinge
die dich bannt dich wach hält
die das Leben
neu rundet
Eine Weile noch bleiben
nah am Wort
im Spielraum der Sprache
im Lichtkreis der Sonne
zu erwärmen die Stirn
Verborgenes heimlich
zum Blühen zu bringen
Zuweilen halte ich an
Worte zu finden
im Fluss des Tages
fange sie ein
fülle mein Netz
eh sie forttreiben
in der Flut des Vergessens
mich zurück lassen
wortlos am Weg
Ereignis
einem anklopfenden Gedanken
die Tür des Tages öffnen
dass er eintrete
Licht zünde und
dich fortziehe ins Freie
Musik
Der Lauf der Dinge
Manchmal
wache ich auf
mit großem Elan
plane tausend Dinge
schweren Gewichts
am Ende den Tag zu
beschließen – mit Nichts
Ein Slam - (Versuch)
wie du
auf der Stelle trittst
wie du trippelst
wie du taumelst
wie du wankst
wie du stolperst
wie du stöhnst
wie du suchst
in allen Ecken
Dich selbst zu
entdecken
In jungen Jahren
der Versuch
freihändig zu radeln
querfeldein
in späten Zeiten
der Versuch
freihändig zu gehen
mutig geradeaus
Es kommt eine Zeit
da fährt dir das
Leben
davon wie ein Zug
in ungeahnte Ferne
du winkst ihm nach
stumm und staunend
und du hältst an wie
ein verwurzelter Baum
am stillen Fleck
Wir Weitgewanderten
blicken zurück
auf den Weg den langen
den unwiederholbaren
der hinter uns liegt
wir halten an
den Himmel im Rücken
die Welt vor Augen
wagen uns weiter
anzukommen
hinter dem Tag
Wie Erntezeit
das Alter
wie Wink und Abgesang
ein neuer
Zeitgewinn
am Ende turbulenter Tage
nach allem Bergauf
das Ankommen in luftiger Höhe
das Verweilen hinter dem Gestern
Immer auf der Suche
nach Zusammenhängen
die tragen
die dich weiterbringen
auf Wegen nach vorn
im Unbeständigen
etwas Beständiges
zu entdecken
Was ist es
das dich bewegt
das dich am Leben hält
welche Fragen treiben dich weiter
wie viel Antwort
fällt dir vom Himmel
wie viel bleibt hängen im Raum
es ist das Ungelöste das dich drängt
Lösung zu finden zum Weiterlauf
Wo ortest du dich
im Dschungel der Eindrücke
im Kunterbunt des Alltags
im Netz der Möglichkeiten
wie gehst du dir nicht selbst
verloren in der Vielfalt der Welt
wie findest du die Wegmarkierung
wie fasst du Fuß wo kommst du an
wirft Vielfalt dich um
wird sie dein Zuhause
auf den Wegen voran
stolperst du oder wachsen
dir Flügel zum Flug ins Gelingen
Nichts
ist mehr
wie es war
nichts bleibt alles bleibt
im Kommen im Gehen
nenn mir Beständiges
hinter den Dingen
etwas Lohnendes
anzuhalten und
weiter zu gehen mit
dem Zukunftsblick
der Hoffnung
Man müsste mal
ja man müsste mal
aus seinen alten Kleidern
steigen in ein neues Gewand
mit freundlicheren Farben
leichter zu knöpfen
mit besserem Sitz
um sich neu zu entdecken
sich sicherer zu bewegen
im zweiten Gang
Der Weitblick
als Rückblick
auf Generationen
im Wandel der Zeiten
Der Weitblick
als Hoffnungsblick
auf Zukünftiges
Dein Flug in die Ferne
wir wagen Kühnes
bewegen uns weiter
suchen ein Ziel
lassen uns tragen
durch Lüfte
im blinden Vertrauen
aufgefangen zu sein
Position beziehen
gut zu wissen wo du stehst
wohin du gehst wo deine Wurzeln
um Undeutliches
deutlicher zu sehen
um eindeutig zu werden
um Position zu beziehen
Zuweilen
zerreißt es dich
landest du im Loch
mitten am Tag
ohne Aussicht
ohne Lichtblick
bis ein Gedanke
ein heller dir hilft
über die Hürde
Wo ist Beständiges
Im Wandel der Zeiten
etwas das bleibt hinter
dem Fliehenden
etwas das trägt
wie Töne dich tragen
über den Tag
Es gibt sie
die
dunklen Tage hinter den hellen
die Trauer hinter dem Lachen
die Suche nach Sinn
Es gibt sie
Momente
das Ankommens
an neuen Stränden
Abstieg oder Aufstieg
Wohin zieht die Menschheit
zu welchen Höhen bergan
wie sehen sie aus
die Ziele der Zukunft
die Utopien des Fortschritts
die Türme der neuen
Bauten von Babel
Die Farbe der Nacht
zerstörende Bilder
rundum in der Welt
wo ist Hoffnung auf Rettung
wo das wache Ohr für
den Aufschrei der Stummen
kein Land in Sicht
auf der Flucht über Meere
wer zählt die Schicksale
verschluckt von der
Farbe der Nacht
Musik
Atempausen
Atempausen
im Galopp der Zeit
ein Anhalten
in Räumen der Ruhe
einzufangen die Stille
hinter dem Sturm
Augenblicke
wie warme Impulse
zum Neuanfang
Eine Begegnung
ein Bild ein Buch
eine Melodie ein Duft
ein Gedicht
dich wunderwirksam
zu verwandeln
Alles bleibt offen
im Zuge
der Zeit
alles bleibt in Bewegung
im Fluss im Weiterlauf
einer Antwort entgegen
Das Nischendasein
Es ist die Nische
in der
du dich sammelst
die Nische
aus der du herauswächst
in die turbulente Welt
es ist die Nische
die dich auffängt
im Rückflug zu dir
mit Gedichten
zwischen Gedichten
hinter Gedichten
mit Psalmen
zwischen Psalmen
hinter Psalmen
traumstark
auf ein Mögliches zu
Ein Leben
Ein Psalm (Versuch)
Gott – Du – Unwiderlegbarer
Du – Kraftfeld des Menschen
Du - Atem des Lebens
Du - Lichtpunkt im Dunkel
Du – das ewige Feuer
am Rande der Tage
Das Schicksal
dein Geschick mein Geschick
was ist es das Schicksal
das unser Leben beschickt
sich einzeichnet in dein Sein
das Schicksal dem keiner entrinnt
dem du gewachsen sein musst
mit wachem Kopf mit klaren Sinnen
Eines Tages
herrscht Stille
hinter dem Sturm
wächst ein Lichtstrahl
im Tunnel der Fragen
fällt Antwort dir zu im
Fortgang der Dinge
eines Tages ein Auferstehen
leichteren Fußes weiter
zu gehen
Das Gebet
ein Prozess
ein Anhalten
eine Haltung
wie ein Selbstgespräch
das Gespräch mit Gott
Ein Zipfel Zeit
das Leben geht weiter
über unzählige Zeiträume
hinaus in ein Uferloses
ein Zipfel Zeit in deiner Hand
anzuhalten das Unanhaltbare
Erinnern Ins
Erinnern versinken
wie ein Schatzsucher
und wieder auftauchen
in die Gegenwart
hellhöriger geworden und hellsichtiger
für Dinge – die dauern
Der Glückliche
ein Träumer
im Lächeln am Morgen
im Aufblick zum Himmel
auf der Suche nach Licht
im Lauf durch die Welt
Musik
Foto: Berni Patten, Köln
Grafiken auf dieser Seite und im Buch
mit freundlicher Genehmigung von Elisabeth Wegerle, Hamburg:
Wegerle-Webstrukturen
Ein Gedicht-Abend mit Annemarie Schnitt
in der "Donnerstagsgesellschaft" am 9. Juni 2011
im Hotel Schere (Heinrich-Heine-Zimmer)
Northeim, am 9.6.2011 (Lesung in der Donnerstags-Gesellschaft)
… Ich bedanke mich herzlich für die Einladung in diese „Donnerstags“-Runde. Bei Ihnen lesen zu dürfen, ist mir eine Ehre. Vielleicht wird für mich als Zugezogene, die ihr Herz zuvor ans Ruhrgebiet verloren hatte, auch Northeim dadurch noch etwas vertrauter?
Im Ruhrgebiet erlebte ich neben sehr interessanten Aktivitäten im kirchlichen Raum auch gute Begegnungen über den dortigen Kulturförderverein Ruhrgebiet.
Es waren Freunde dieser Gruppe, die mich damals an den Computer brachten. Sie führten mich ein und gestalteten mir eine eigene Homepage für meine vielen, inzwischen angesammelten Texte.
Auf diese Weise kam ich an einen „virtuellen“ Schreibtisch, an dem ich systematischer Ordnung schaffen konnte als auf dem realen mit vielen Zetteln und Blöcken. Es gab erste Mail- und Gästebuchreaktionen, Gedankenaustausch mit mir fremden Menschen, die auf die Texte gestoßen waren. Eine neue Welt für mich, die im Laufe der Jahre mein Leben sehr bereicherte!
Nachdem ich in den 80er Jahren drei kleine Lyrik-Buch- Veröffentlichungen im Kiefel-Bertelsmann-Verlag hatte, betreute mich hier im Kulturförderverein eine junge Germanistin als Lektorin im einem neu gegründeten Verlag des Kulturfördervein Ruhrgebiet(KFVR). Dort kam gerade ein viertes Büchlein von mir heraus, der “Perlfluss Poesie“, dessen Titel einen sehr speziellen Hintergrund rückspiegelt. Darauf möchte ich zum besseren Verständnis kurz eingehen:
Ich bin in Südchina geboren, bin zwischen Perlfluss und Ostfluss (im heutigen Guangzhou) auf einer Missionsstation aufgewachsen. Mein Vater leitete dort als Missionar der Rheinischen Kirche Wuppertal ein Lepra-Asyl mit über 300 an Aussatz erkrankten Menschen. Es wurde am Anfang des 20. Jahrhunderts als erstes Auffanglager gegründet, als Missionare die von der Gesellschaft Ausgestoßenen auf Friedhöfen, in einsamen Höhlen und Ecken auflasen und ihnen ein Obdach schafften auf einer nahen Halbinsel im Ostfluss, der nicht weit entfernt in den Perlfluss mündet. In diesem Perlfluss-Ostfluss-Gebiet wirkten Missionare schon seit über 100 Jahren im ärztlichen, im Schul- und seelsorgerlichen Dienst, bis die Mao-Revolution 1949 die Ausländer vertrieb.
Ich sehe in meinem Vater den ersten Entwicklungshelfer dort, dessen besonderes Anliegen, bei auch aber zur Lepra-Insel, um den
Gesundheitszustand der Betroffenen zu überprüfen.
Eine Kapelle wurde gebaut als Begegnungszentrum, ein Raum für
Gespräche, Andacht und Stille. Mit der Harmonie-Lehre der drei
chinesischen Religionen, dem Daoismus – Buddhismus – Konfuzianismus,
versuchten Christen ihr theologisches Denken in Einklang bringen! In
allen Religionen geht es um den Menschen zwischen Himmel und Erde.
Unserm christlichen und ausgeprägt anthropologischem Heilsverständnis
steht ein kosmisches in den anderen Religionen gegenüber. Auch die
christlichen Aussagen wurden verstanden und dankbar angenommen und
Gemeinden gegründet, zu denen es heute noch Kontakte gibt.
Auf dem Gelände des Lepra-Asyls entstanden Töpfereien,
Werkstätten mit Brennöfen für alle nötigen Gebrauchsgegenstände wie
Reisschalen, Vasen, Krüge. Angelieferte Tonerde wurde gemischt mit
vorhandenem Quarzsand und Wasser vom Flussufer vor Ort.
Mein Vater ließ eine Steinpresse aus Deutschland kommen und
stellte mit den Lepra-Kranken Stein- und Terrazzoplatten in jeder Größe
und Menge her, etwas ganz Neues damals auf dem chinesischen Markt –
Ware, die als gebrannte Ware auch verkauft werden konnte in die Städte
rundum. Noch heute zum Beispiel – ich hoffe es! - ist der
Bahnhofsvorplatz von Guangzhou mit den Platten vom Asyl gepflastert.
Auch Hospitäler in Hongkong zeigten großes Interesse an den neuartigen
Fußbodenplatten.
So trugen die noch arbeitsfähigen Kranken selbst bei zu ihrem
Lebensunterhalt, entwickelten neue Lebensfreude und waren nicht nur auf
Spenden aus Amerika und anderswo angewiesen.
Oft erzählte mein Vater von der sehr besonderen
Arbeitsatmosphäre dort: Jede Arbeit war freiwillig, einige schafften nur
noch Handreichungen, andere schauten zu und freuten sich mit den
Schaffenden über die Erfolge!
In diesem Umfeld wuchs ich mit meiner jüngeren Schwester mit
chinesischem Namen (Mulan und Amui) unter Chinesenkindern auf. Wir
sprachen ihre Sprache, spielten ihre Spiele. Ein paar Jahre später kamen
noch ein Bruder und eine Schwester hinzu. Da ich wiederholt bedenklich
an Malaria erkrankte, entschlossen sich meine Eltern schweren Herzens,
mich mit meiner Schwester nach ihrem Deutschlandurlaub 1932 im
Missionsinternat in Düsseldorf -Kaiserswerth zu lassen – bis zum
nächsten Urlaubswiedersehen nach den üblichen sechs Jahren. Daraus
wurden dann kriegsbedingt 16 Jahre. Erst 1948 gab es dann ein bewegendes
Wiedersehen am Flughafen in Frankfurt.
Doch das alles ist nicht das Thema dieses Abends. Der
Perlfluss, den ich als Kind erlebte, blieb mir mit guten Bildern im
Gedächtnis. Ich sah ihn 1991 wieder bei einem Besuch der alten
China-Gemeindestationen und wanderte in Guangdomg gedankenverloren an
seinem Ufer entlang. Inzwischen wurde er für mich zu einem
Gedankenfluss, zum „Perlfluss Poesie“, der sehr viel verstecktere Bahnen
zieht als der mächtige Fluss der Kindheit in China.
Und nun – bevor ich lese – noch diese Frage: Wie kommt man ans Schreiben?
Mir schenkte ein Patenonkel zur Konfirmation im ersten
Kriegsjahr ein dickes leinengebundenes Tagebuch: blau mit kleinen roten
Blüten darauf … Das begleitete mich durch die Pubertät, half mir über
manche Kriegsereignisse und Heimwehphasen hinweg und hielt mich an zum
ersten Reflektieren und Gedankensammeln. Ein originelles Sammelsurium
trauriger und lustiger Lebenserfahrungen, erste Rilke-Gedichte, später
auch Hölderlin und dazwischen versponnene eigene Schreibversuche. Ein
Tagebuch löste im Laufe der Zeit das nächste ab, bis dann in letzten
Büchern sehr viel später nur noch Gedichtversuche übrig blieben.
Vielleicht ist der Perlfluss Poesie auch eine Art Tagebuch!
„Möcht nicht sprachlos werden“ heißt eins meiner ersten Lyrikbändchen
aus dem Kiefel-Bertelsmann-Verlag aus den 80er Jahren. Denn: Schreiben
heißt doch „bei Sprache bleiben“, heißt zu kommunizieren mit sich
selbst, mit Gott, mit einem Gegenüber.
Bevor ich lese, möchte ich noch kurz Octavio Paz, den mexikanischen Dichter und Diplomaten zitieren.
Er schreibt: "Das Gedicht, sei es offen oder verschlossen,
fordert die Abschaffung des Dichters, der es schreibt, und die Geburt
des Dichters, der es liest oder hört!“
In diesem Sinne möchte ich mich jetzt abschaffen beim Lesen der jüngsten Gedichte aus dem Perlfluss Poesie:
"Das Gedicht, sei es offen oder verschlossen, fordert die
Abschaffung des Dichters, der es schreibt, und die Geburt des Dichters,
der es liest oder hört!“
Octavio Paz
Geheimsprache
Kennst du sie
die Sprache mit Melodie
die Geheimsprache Poesie
die Sprache der Sprachen
sie schläft nebenan
wenn du sie weckst
sie für dich entdeckst
wird die Sprache der Sprachen
dich hellhörig machen
Ein Gedicht
zerbrechlich wie ein Glas
aus Kristall
nimm behutsam
das zarte Gebilde
und halt es gegen den Tag
vielleicht erkennst du
im Zauberkreis
sich brechenden Lichts
Spuren gebrochenen Seins
aufgefangen im Spielraum
gezündeter Farben
Das Gedicht
ein bewohnbarer Raum
die Zeit wie gebannt
Gedanken sammeln sich
Träume nisten sich ein
Sterne blitzen auf über
dem verdichteten Leben
Der Perlfluss Poesie
der schmale
wie er sich Bahn bricht
durch alle Winkel der Welt
unauslotbar seine Quelle
unauffindbar sein Ziel
im Zenit der Zeit
unaufhaltbar sein Lauf
geheimnisumwachsen
neben wilden Gewässern
wie er sich verliert
in Tiefen und Tälern
sich wiederfindet
unter Sonne und Mond
Aufgelesenes fortzutragen
ins Gedächtnis der Tage
Meine Landschaft
ist die der Gedanken
der verzweigten
wie Baumgeäst kahl
gegen den Himmel
meine Landschaft
ist die der Träume
der tröstlichen
nackte Zweige
zum Blühen zu bringen
Etwas in mir
ist jung geblieben
bewegt sich auf leichten Füßen
streckt sich zu Sonne
schwimmt gegen denStrom
hält mir die Stange
beim Sprung über die Zeit
Dunkel das Wasser
im Brunnen der Erinnerung
wenn du dich beugst
über den Rand
den steinernen wird es lebendig
spiegelt Gesichter
und tanzende Sterne
spiegelt Zweige im Wind
spiegelt dir Leben zurück
Bilder
die ohnmächtig machen
den Atem stocken lassen
dich aus der Fassung bringen
Bilder
die mehr sind als Bilder
von Menschen mit Namen
mit einem Gesicht wie du und ich
Bilder
die sich einbrennen
unauslöschlich in dir
unaufhebbar
vom hämmernden Herzen
Erinnerungsgang durch die Stadt
(Gedenken an das Schicksal der Juden)
Und plötzlich wird dir die Stadt vertraut
wo die Toten auferstehen
in der Erinnerung
wo sie ihren Geschäften
im Alltag nachgehen
wo sie sich bege
in Versammlungen
wo sie ihre Fenster
öffnen und schließen
wo sie sich zuwinken
quer über die Straße
auf der du heute stehst
ihnen zuzuwinken
in tiefer Betroffenheit
Bei Trost sein
Sind wir Menschen noch
bei Trost
in unserm Tun
in unserm Lassen
noch bei Trost
beim blinden Sprung
über Grenzen in Zukünftiges
bei Trost in unserer Utopie
dass alles machbar sei
die Natur verfügbar
der Mensch manipulierbar
sind wir Menschen noch
bei Trost
in unserer Selbstvergöttlichung
im Löschen der Hypothese Gott
der tragenden
die uns bei Trost hält
Das verwundete Gedächtnis
der unterdrückten Menschen
der ausgeplünderten Völker
das verwundete Gedächtnis
es schläft nicht
es reibt sich die Augen
es ist hellwach geworden
es schlägt gegen die Tür
unserer Tage
es rammt die Pfosten der Zeit
das verwundete Gedächtnis
es ist wach geworden
wacher denn je
zum Widerstand
gegen die Wilderer der Welt
Wenn du verstehst
lichtet sich Nebel
vibriert die Luft
ebnen sich Wellen
wächst Gras drüber
entspringen Sterne deiner Stirn
wenn du verstehst
Heinrich Heine
Besessen von der Suche nach
Freiheit
besessen Geschichte zu schreiben
mit Bildern einer besseren Welt
besessen sich selbst auszuhalten
Schlafende wachzutrommeln
die Tugend der Jugend
fortzutragen ins Alter
Sie tragen noch heute
die großen alten Geschichten
der Menschheit
sie tragen noch heute
neu erzählt:
Das Chaos von Babel
Kain und Abel die große Flut
das Hoffnungsblatt
im Schnabel der Taube
Hiobs Durchbruch zum Leben
die Idylle von Bethlehem
hinter dem Argwohn der Welt
sie tragen noch heute
die großen Bilder des Lebens
sie wirken weiter
als Essenz des Seins
Und nun weiter im Text:
Wer Gedichte veröffentlicht
(schreibt Donald Marquis),
wirft ein Rosenblatt in den Grand Canyon
und wartet auf Echo.
Und die Nobelpreisträgerin
WISLAWA SYMBORSA sagt:
„Manch wackelige Antwort
ist dieser Frage bereits gefolgt.
Aber ich weiß nicht, ich weiß nicht.
Ich halte mich daran fest
wie an einem rettenden Geländer.“
(Und bei Schleiermacher lese ich
Keine Poesie – keine Wirklichkeit)
Nichts geht verloren
nicht die Landschaft
durch die ein Wind
dich getrieben nach vorn
nicht die Gärten der Kindheit
in denen immer noch
Fragen blühen
die erste Liebe nicht
alle die Wege bergauf
die Wolkenbrüche der Trauer
nicht das Glück
der Schmetterling
auf geöffneter Hand
nichts geht verloren
Leben ist Frucht
des Erlebten
Freundschaft
schmeckt wie runder Wein
hört sich an wie helles Lachen
fühlt sich an wie weiches Fell
riecht nach frischem Gras
wächst wie Immergrün
zu übergrünen den Winter
Ein Einmaleins
Wär zwischen uns
wild und schön
eine Wiese zum Entgegengehen
wir pflückten Sträuße
aus Sonne und Wind
ein Einmaleins
darin wir einig sind
Zeichen setzen
Mit U l l a: Herz über Kopf
Mit I n g e b o r g: Die Zeit stunden
Mit L u i s e: Im Dunkel singen
Mit C h r i s t a: Sich erinnern
Mit H i l d e: Eine Rose als Stütze
Mit M a r i e-L u i s e: Nicht so sicher sein
Mit E l s e: Hell schlafen dunkel wachen
Mit D o r o t h e e: Fliegen lernen
Mit N e l l y: Ausgeliefert sein
Mit Rose: Sich bekennen zur Poesie
Ein bisschen Winterschlaf
braucht die Seele
die Schneedecke über dir
zu überdecken den Acker
mit seinen dunklen Furchen
schneeweiß zu umhüllen
das Geäst der Trauer der Sorge
heimzuholen das Geheimnis
hinter den Dingen
ein bisschen Winterschlaf
braucht die Seele
unter der weißen Decke
der Träume vom Gelingen
aufzulesen das Ungeschriebene
hinter dem Festgeschriebenen
Erstarrtes wieder aufzutauen
zu neuem Leben
Auf dem Weg nach vorn
Nie hörst du auf zu träumen
auf dem Weg nach vorn
es gibt kein Zurück ins Gestern
es gibt nur ein Weiter
vielleicht an Strände
närrischer Vernunft
vielleicht an Ufer
vergessener Weisheit
Und plötzlich
gerätst du ins Schweben
da ist nichts Festes mehr unter den Füßen
du verlässt den Alltagskokon
lässt dich gleiten ins Offene
nach allem Festgefügten
entdeckst eine neue Welt
eine noch unentdeckte
eine leichtere
losgelöst vom Druck des Tages
du wagst den Blick in die Weite
um neu zu verstehen
Schwerpunkte
dir du setzt
im Laufe der Jahre
Punkte die schwerer wiegen
als das Vielerlei und Einerlei
Punkte die dich herausfordern
mit klarem Blick
auf den Punkt zu kommen
im Zug durch die Zeit
Ein Flügel Poesie
Einen Kopf zu
zu erkennen das Ziel
zwei Füße
zu durchforsten
die Schätze der Welt
zwei Hände
zu hüten das Heil
ein Herz aufzufangen
den Fluss der Dinge
ein Flügel Poesie
Unfassbares
zu erfassen im Fliegen
Heute Nacht
ein Gedicht verloren
im Getümmel der Träume
im Morgengrauen
eine Menge Meilen
zurückgelaufen
keiner wird mir je
den Vogel bergen
der aus dem Nest gefallen
Eines Tages
verflüchtigst du dich
wie ein Traum sich
verflüchtigt am Morgen
eines Tages
wird kein Tag mehr sein
und keine Nacht für dich
gefüllt mit Träumen
eines Tages
öffnet sich der Horizont
du löst die Riemen der Schuhe
und fliegst davon
Sommertag
Noch ist Sommertag und offen der Himmel
die Luft voller Samen
und süßem Duft
in den Feldern der Mohn in den Gärten Margriten
am Steilhang zwischen Moos
mein kleines Gedicht
Noch ist Sommertag und offen der Himmel
es dreht sich der Drachen
lautlos im Wind
der Surfer spannt den Flügel
zum Flug über Fluten
am Spinnennetz spinnt
mein kleines Gedicht
Noch ist Sommertag
und offen der Himmel
es atmet die Erde
ganz arglos im Traum
was tun – wenn durch Menschen Zerstörung einbricht
schon wachsen Taubenflügel meinem kleinen Gedicht
Kleine Ergänzung:
UND NOCH EINS
Den Reim gibt es nicht mehr
nichts reimt sich auf Reim
es sei denn
Reim geht einem Reim
auf den Leim
(Dazu der Kommentar einer Tochter:
Mama:
Schließlich passt auf Reim
Ordnung Wohlstand trautes Heim
bei Magendrücken Haferschleim
auf alles gibt es einen Reim
Kritik erstickt im ersten Keim
auf dem Leim vom Reim)
Flyer für die Lesung 2012
Datum: 08.07.2012 20.17
Nachgedanken zu einem Gedichtabend von Annemarie Schnitt
Es war ein gedankenvoller Abend, den Annemarie Schnitt in der Donnerstagsgesellschaft Northeim mit ihren Gedichten gestaltet hat. Ihre Art des Vortragens – auch ihre Stimme - verlieh den Gedanken der Gedichte einen Grad von Authentizität, dass man - sich selbst in die vorgetragenen Gedanken einbringend – nicht nur mitgehen konnte, sondern begann, über sich selbst und vergleichbare Situationen nachzudenken. Wenn das Wort gewinnbringend eine Berechtigung hat, dann trifft es auf den Abend mit den Gedichten von Annemarie Schnitt zu. Mir wurde auch klar, was die Lektoren von Schulbuchverlagen bewogen hat, Gedichte von Annemarie Schnitt in Lesebücher zu übernehmen, es ist gut vorstellbar, dass Jugendliche ihre Gedichte ebenso mögen wie die Teilnehmer an dem Gedichtabend.
Aus der Bedrängnis des Alltags mit seinen Nöten, Begrenzungen und seinen ‚Fesseln der wetterwendischen Welt‘, dem Verweilen im Dunklen, dem an „Scherben“ reichem Leben, das umstellt ist von „Mauern“ und oft genug nur „Sackgassen“ anbietet, öffnen sich in Annemarie Schnitts Gedichten wie in „Chaos im Kopf“, Wege aus der Bedrängnis, Perspektiven auf eine neue, zumeist befreiende Wirklichkeit.
Aus der geradezu alltäglichen Beobachtung von Festland und Brandung gewinnt Annemarie Schnitt den Gedanken des Neu – Ankommens („fesselfrei“) oder den Gedanken des Neubeginns im Gedicht „Zwischen Ebbe und Flut“. Aus einer Beobachtung wird der Gedanke entziffert, aus dem Gedanken wird das Gedicht. „Aus Gedanken Feuer schlagen“ kann geradezu als das Arbeitsprinzip der Gedichte von Annemarie Schnitt gesehen werden. (Einfühlend war dann auch war die Änderung der Ankündigung durch Olaf Weiß, die aus der Ankündigung „Aus Gedanken Feuer schlagen“ „Aus Gedichten Feuer schlagen“ machte.) Immer wieder keimt in den Gedichten die Hoffnung auf Besseres auf, von Rettung ist die Rede, „wo Hoffnung aufblitzt“ (wieder die Verbindung von Feuer und Besserem). Es geht Annemarie Schnitt nicht um den erfüllten Besitz der Hoffnung - „zerbrechliche Blüten der Hoffnung“ – so sehr sie auch eine bessere Welt sich herbeiwünscht (s. „Wie denn“). Ich fragte mich an einigen Stellen, ob der Titel nicht besser formuliert wäre „Aus Gedanken Funken schlagen“, ob daraus ein Feuer werde, bleibt dem Hörenden aufgegeben - gemäß dem Leitsatz von Octavio Paz „Das Gedicht, sei es offen oder verschlossen, fordert die Abschaffung des Dichters, der es schreibt, und die Geburt des Dichters, der es liest oder hört.“ den Annemarie Schnitt ausdrücklich heranzieht.
Und immer wieder nutzt sie die Möglichkeiten der Sprache als Mittel gegen die Vergänglichkeit. Elisabeth Borchers schreibt: "Wenn wir etwas über die Unbestechlichkeit, den Triumph der Sprache erfahren wollen, lesen wir ein Gedicht." Manche Worte wie „Ortlosigkeit“ oder „fesselfrei“ oder „fußsicher, flügelleicht“ oder „blickgenau“, die das Rechtschreibprogramm des Computers nicht sofort annimmt, sind kunstvolle Stufen, die, wenn auch oft genug nur für befreiende Momente, die eigene - oft als belastete und belastend erlebt - Wirklichkeit transzendieren. Noch einmal Elisabeth Borchers. ,,Das Gedicht ist uns selbst auf der Spur, es zeigt uns Wege, die wir verlassen haben, die wir finden oder wieder finden müssen, wenn wir auf dem Weg zu uns selbst sind. Darum sind Gedichte unverzichtbar, darum gehö-ren sie zu unserem Existenzminimum."
Folgt man Annemarie Schnitts Gedichten, kann man sehen, wie ‘Worte Bausteine neuer Welten schaffen“ für den
„ortlosen Menschen“, „sicherer zu gehen unter der Sonne“.
Herzlichen Dank, Frau Annemarie Schnitt!
Rolf BalloManfred